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Wie ich auf den Vogel kam (Teil 2)

14 Oktober 2022

Dänemark – und wie ich auf den Vogel kam Teil 2

Anfang bis Mitte der 70er Jahre verbrachten mein Bruder und ich mit unseren Eltern zwei Sommerurlaube in Dänemark am Strand. Ich erinnere mich noch heute an jenen wunderbar balsamig-warmen Geruch von unbehandeltem Holz, den die beiden schlicht eingerichteten Ferienhäuser ausatmeten. Es war zwar wenig los für Kinder und es gab auch keine zum Spielen. Aber die Dünen und das Meer reichten meinem Bruder und mir für aufregende Wochen.

Der arme Fisch

Zum Essen gab es meist gebratene Scholle. Aus unerfindlichen Gründen wurden dazu stets Kartoffeln mit Rotkraut gereicht, vielleicht gab es schlicht keine alternativen „Beilagen“? Die Schollen kauften wir im Küstenstädtchen beim Kutter-Verkauf, wo die Fische noch zappelten, bevor Sie mit einem Hieb starben. Der Anblick hat mich nicht „abgehärtet“, ganz im Gegenteil. Wenn ich heute in meiner geliebten Bretagne an den Fischabteilungen im Supermarket hastig vorbeieile und aus den Augenwinkeln große Krebse oder Hummer mit zusammengebunden Scheren und rudernden Augen sehe, schaudert es im Inneren. Aber das ist ein anderes Thema.

Das Vogelküken in der Watte

Eines Morgens kam ich recht früh in die Küche und fand meinen Vater konzentriert hantierend vor einem Schälchen vor. Neben dem Schälchen lag ein großer Wattebausch (den hatten die Mütter damals immer parat, große fusselige Wattepackungen). Der Wattebausch hatte seine Bestimmung gefunden. In dem Schälchen, gebettet auf Watte, lag ein Vogelküken. Es war fast federlos nackt, winzig, mit großen quellenden Augen und sperrte weit das Schnäbelchen auf. Mein Vater fand es schwach piepsend neben der Eingangstüre. Nun hatte er eine Pinzette aus dem Necessaire meiner Mutter entnommen und mit Eidotter eingeschmiert. Vorsichtig versuchte er, das Küken damit zu füttern. Das ging stundenlang so. Er frühstückte nicht. Er wollte nicht reden. Er war nur mit dem Küken beschäftigt. Wir Kinder waren aufgeregt, schauten zu und hofften, dass wir nach unserem Urlaub ein echtes dänisches Federkind mit nach Hause nehmen konnten. Am Abend war das Küken tot.

Mein Vater. Die Vögel

Es ist eine Momentaufnahme meines Lebens, die mich geprägt hat. Mein Vater war ein „harter Knochen“. Ein Patriarch. Streng. Man sagte: lieblos, aber fair. SPD-Mitglied für viele Jahre. 1926 geboren, nach dem „Notabitur“ 1945 in den Krieg gezwungen. Geflüchtet nach Wien. Gefangengenommen von dort einmarschierenden Russen. Verfrachtet mit Hunderten in Viehwagons zum Abtransport. Knapp vier Jahre Gefangenschaft in Sibirien. Von 100 000 Männern kamen 10 000 zurück. Mein Vater sprach wenig über diese Zeit. Und wenn, dann immer gut von der russischen Bevölkerung. Liebevolle Gefühle zeigte er nur den Tieren und unserer Mutter gegenüber, die er heiß und innig liebte. Dann wurde sein Gesicht weich und manchmal erblickte ich in diesen Momenten eine Träne. Ich glaube, von allen Tieren hat er die Vögel am meisten geliebt. Seine „Vögelchen da draußen“ fütterte er bis zuletzt. Meine Eltern ruhen im Friedwald in der Pfalz zwischen Bad Dürkheim und Kaiserslautern. Dort sind die Vögel und zwitschern von den Bäumen. Das war ihr Wunsch.